Parsifal – Das geheimnisvolle Werk

von Udo Stephan Köhne

Der „Parsifal“ ist Richard Wagners letzte Oper. Er ist zugleich die Krönung von Wagners Opernschaffen. Und er ist etwas Besonderes in vielerlei Hinsicht. Denn Wagner nannte sein „Weltabschiedswerk“ nicht etwa schlicht und ergreifend „Oper“, sondern betitelte „Parsifal“ als „Bühnenweihfestspiel“, ein Untertitel, der bis dahin in der Operngeschichte noch nicht vorgekommen war. Eine Anspielung auf den (nach Meinung Richard Wagners) besonderen und zum Teil religiösen Charakter dieses Werkes. Im übrigen wollte der Komponist das Werk zunächst nur den Bayreuther Festspielen vorbehalten; also es nur dort im von ihm selbst konzipierten Festspielhaus aufführen lassen. Was tatsächlich geschah: bis Ende 1913 war der am 26. Juli 1882 uraufgeführte „Parsifal“ durch eine 30jährige Schutzfrist nur für Aufführungen in Bayreuth vorgesehen. Die New Yorker Metropolitan Opera missachtete diese Vorschrift 1903 einmal: die daran beteiligten Künstler traf der Bann Bayreuths und der Wagner-Witwe Cosima, die den Beteiligten jede zukünftige Mitwirkung an den Festspielen auf dem „Grünen Hügel“ (wie das Festspielgelände auch gerne genannt wird) verbot. Als dann 1914 die Schutzfrist fiel, stürzten sich die Opernhäuser auf „Parsifal“. Das Barceloner Opernhaus (das „Liceu“) begann Punkt Mitternacht am 1. Januar mit einer Aufführung. Andere folgten sehr bald: Parsifal war endlich dort angekommen, wo er hingehörte: auf die Bühnen der Opernwelt.

Was aber macht den „Parsifal“ so besonders? Was unterscheidet ihn von anderen Opern, dass man ihm bis heute etwas Mystisches andichtet und ihn zu den extravaganten Musiktheaterwerken zählt? Es hat viel mit der Handlung zu tun, die auch hier auf wenige spektakuläre Momente reduziert ist und viele Spekulationen eröffnet, was denn wohl eigentlich gemeint sein könnte. Kurzum: der „Parsifal“ hat die Interpreten in besonderer Weise herausgefordert. Erzählt wird vom siechen Gralskönig Amfortas. Dieser hat im Kampf gegen Klingsor, der einst nicht in die Gralsritterschaft aufgenommen wurde und jetzt ein Reich der Verführung errichtet hat, den heiligen Speer der Gralsburg verloren. Mehr noch: Amfortas wurde von Klingsor mit diesem Speer verwundet und die Wunde schließt sich nicht mehr. Alles wartet auf Heilung des kranken Amfortas. Das ist die Vorgeschichte.

Wenn die Oper beginnt, sehen wir den vergeblich auf Arzneien hoffenden Amfortas, dem von Kundry, die einmal Gralsbotin und später dann Verführerin ist, gerade ein neues Mittel überreicht wird. Auch dieses hilft allerdings nicht. Ein Gralsritter namens Gurnemanz erklärt einigen interessierten Knappen, warum Amfortas leidet. Plötzlich erscheint Parsifal. Gurnemanz tadelt ihn für das Töten eines Schwans. Der unwissende Parsifal wird Zeuge des Gralenthüllungsprozesses, allerdings ohne etwas dabei zu empfinden. Der zweite Aufzug dann spielt in Klingsors Reich. Parsifal widersteht allen Verführungskünsten der Blumenmädchen und auch Kundrys, er entwindet Klingsor den Speer und kehrt ins Gralsgebiet zurück. Dort trifft er auf Gurnemanz und Kundry. Gurnemanz erkennt, dass Parsifal der Erlöser und rettungsbringende Held ist. Er tauft ihn und alle drei ziehen zur Gralsburg. Dort heilt Parsifal Amfortas mit dem Speer: die Wunde schließt sich und Parsifal nimmt sein Amt als neuer Gralskönig auf.

Diese Handlung erstreckt sich musikalisch über einen Zeitraum von vier Stunden. Viel wird erzählt in „Parsifal“. Vor allem die Monologe des Gurnemanz im ersten Aufzug sind berüchtigt: hier ist die Regie gefordert, die statische Situation aufzubrechen. Auch die große Szene in der Gralsburg ist von eigenartiger Kraft: eine Zeremonie (die Enthüllung des Grals, der Schale also, in der Christi Blut aufgefangen wurde) wird abgehalten. Wenig passiert, und doch bergen diese 40 Minuten etwas Geheimnisvolles. Auch hier ist „Parsifal“ einmalig: keine andere bedeutende Oper enthält so viele Momente der Erstarrung und auch der fast völligen Handlungslosigkeit. Trotzdem (oder gerade deshalb?) übt „Parsifal“ eine ungemein große Faszination aus. 

Unterstrichen wird dies zusätzlich durch eine Musik, die in großer Ruhe und Entspanntheit fließt und sich entwickelt. Diese Musik ist selten dramatisch und zupackend – am ehesten noch beim Auftritt Parsifals und in der Szene zwischen Kundry und Parsifal im zweiten Aufzug –, sondern zieht an uns gelassen vorüber. Sodann ist der Hang zu Mischklängen ein auffälliges Kriterium der Parsifal-Komposition. Es mag daran liegen, dass Wagner den „Parsifal“ sehr genau auf die akustischen Verhältnisse des Bayreuther Festspielhauses zugeschnitten hat. Und diese befördern nicht jenes transparente und vielleicht gerne erlebte knallige Musizieren wie es sich heute vielerorts etabliert hat, sondern sorgen für jenen eigenartigen und durchaus gewöhnungsbedürftigen Klang – jeder der einmal eine Aufführung im Bayreuther Festspielhaus erlebt hat, weiß davon zu berichten –, der sich aufgrund des verdeckten und unsichtbaren Orchesters eher indirekt verbreitet und damit weniger präsent beim Zuschauer ankommt. „Wie Wolkenschichten, die sich teilen und wieder bilden“, solle diese Partitur klingen, hatte Wagner schon vor Beginn der Partiturreinschrift angekündigt. Und wirklich lässt sich dieses Bild auf die Parsifal-Instrumentation anwenden. Andererseits sorgt diese spezielle Instrumentation, die zugleich inklusive des Bayreuther Orchesterdeckels eine lautstärkemäßige Begrenzung bedeutet, für gute Textverständlichkeit der Sänger. Es war also vielleicht nicht nur Arroganz der Wagner-Witwe im Spiel, als sie versuchte, den „Parsifal“ über 1913 hinaus (sogar der Reichstag diskutierte damals die Angelegenheit) allein den Bayreuther Festspielen zu sichern.

„Parsifal“ ist und bleibt auch 141 Jahre nach der Uraufführung ein unergründliches und geheimnisvolles Werk. Was wird hier eigentlich vorgeführt? Ist die Zeremonie in der Gralsburg ein religiöses Ritual oder eine wirkungsvolle theatralische Eingebung? An dieser Frage haben sich unzählige Autoren abgearbeitet; mit widersprüchlichen Ergebnissen, wie man sich denken kann. „Parsifal“ hat das Publikum entzweit: die einen (die sogenannten „Wagnerianer“) wollten angesichts des rituellen Aktes am Ende des ersten Aufzugs mit Verteilung von Brot und Wein an die anwesenden Gralsritter einen quasi geistlichen Akt erkennen, der ihnen anschließend den Applaus verbot. Die Anderen sahen vor allem die spannende Handlung im Vordergrund stehen und warnten vor der Gefahr, sich Wagners ideologischen Anliegen auszuliefern. Und so bleiben viele Fragen. Wie jedes große Kunstwerk entzieht sich Richard Wagners „Parsifal“ vorschnellen Antworten: wir als Zuschauer sind gefordert, Antworten zu finden.